Hallo,
in der heutigen Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung ist ein interessantes längeres Interview von Tobias Gafafer mit der Verwaltungsratspräsidentin der SBB, Monika Ribar, zu lesen. Monika Ribar: „Ich würde in Deutschland nie im Fernverkehr tätig werden.“ Mit der heutigen Infrastruktur sein ein vernünftiger Betrieb kaum möglich, sagt Monika Ribar. Sie erklärt, warum es schwierig wäre, selbst internationale Züge anzubieten – und weshalb es nicht zu einer Kooperation mit Flixtrain gekommen ist.
NZZ: Frau Ribar, waren Sie mit dem Zug in den Ferien?
Nein, dieses Jahr nicht. Wir haben eine große Reise in die Arktis gemacht – und da kommt man schlecht mit der Bahn hin
NZZ: Greenpeace hat die Zahl der Direktverbindungen zwischen europäischen Städten untersucht. Keine Schweizer Stadt kommt auf einen Spitzenplatz. Waren Sie überrascht?
Jein. Ich benutze in Europa häufig die Bahn und finde, dass wir viele gute Direktverbindungen ins Ausland haben. Aber Greenpeace hat Fahrzeiten von bis zu achtzehn Stunden genommen, was für die Luftfahrt keine Konkurrenz ist. Wien ist der Spitzenreiter, auch dank den vielen Nachtzügen. München und Berlin schneiden ebenfalls gut ab, aber diese Städte haben ein deutlich größeres Einzugsgebiet. Zürich teilt sich den vierten Platz immerhin mit Paris, das eine viel größere Einwohnerzahl hat.
NZZ: Schlecht schneidet Genf ab. Dabei wären etliche Städte in vier bis sieben Stunden mit dem Zug erreichbar. Vernachlässigen die SBB Genf und die Westschweiz?
Nein. Die TGV-Linie von Genf nach Paris ist ein absoluter Renner. Da haben wir einen sehr hohen Marktanteil. In Richtung Marseille prüfen wir, ob es in der Vor- und der Nachsaison Potenzial für zusätzliche Direktzüge gibt. Diese lohnen sich vor allem im Sommer. Viele Menschen aus Genf und der Westschweiz reisen zwar nach Südfrankreich. Das Problem ist aber, dass sie im Gegensatz zu Paris nicht in eine Stadt fahren, in der sie bleiben. Marseille ist eher eine Zwischenstation auf dem Weg in die Provence oder an die Côte d’Azur. Dadurch brauchen viele Reisende ein Auto. Der Regionalverkehr ist in Südfrankreich leider schlecht ausgebaut, auch wenn es in den Städten Verbesserungen gibt.
NZZ: Dank der Neubaustrecke von Lyon nach Südfrankreich ist die Bahn viel schneller geworden. Von der Schweiz fährt aber nur im Hochsommer ein TGV nach Marseille, während es früher sogar Direktzüge nach Barcelona gab. Hat die SNCF kein Interesse an besseren Verbindungen?
Es gibt keinen TGV der SNCF mehr von Lyon nach Barcelona, weil die Zusammenarbeit zwischen den zwei betroffenen Bahnen schwierig geworden ist. Die SNCF macht der Renfe in Spanien mit Hochgeschwindigkeitszügen Konkurrenz. Immerhin fährt die Renfe wieder von Lyon nach Barcelona. Die Fahrzeiten ab der Schweiz sind heute eher zu lang. Aber wir arbeiten an weiteren Direktverbindungen nach Südfrankreich oder auch nach Spanien.
NZZ: Das Angebot auf der Strecke Genf–Lyon ist ungenügend. Der Genfer Verkehrsdirektor Pierre Maudet schlägt vor, dass die SBB mit der geplanten Öffnung des internationalen Fernverkehrs die Linie betreiben. Was halten Sie davon?
Das kommt darauf an, ob Herr Maudet bezahlt. Wir müssen Linien haben, die sich rechnen. Sonst ergibt es unternehmerisch keinen Sinn. Lyon hat zwar Potenzial. Der Zug wäre auf dieser Strecke eine gute Alternative zur Straße. Aber das Problem ist die Infrastruktur. Die Schweiz hat auf anderen grenznahen Strecken den Ausbau mitfinanziert. Das ist zwischen Genf und Lyon nicht der Fall. Es wäre zwar möglich, zusätzliche Zugstrassen zu finden, doch nebst betrieblichen Herausforderungen wie der Stromversorgung gibt es bereits subventionierte Züge. Das erschwert ein besseres eigenwirtschaftliches Angebot. Unter diesen Rahmenbedingungen können wir der Straße keine Konkurrenz machen. Darum glauben wir nicht, dass sich die nötigen Investitionen ins Rollmaterial und Personal rechnen.
NZZ: Hervorragend ist die Bahninfrastruktur zwischen Mailand und Rom. Haben Direktzüge von der Schweiz nach Rom kein Potenzial?
Die Schweiz hat die Basistunnel der Neat primär für den Güterverkehr gebaut und nicht, damit wir schneller zum Shoppen in Mailand sind. Der größte Teil der Trassen ist für Güterzüge reserviert. Wir können leider keine zusätzlichen Personenzüge durchbringen.
NZZ: Die SBB fahren in der Regel etwa alle zwei Stunden von Zürich nach Mailand. Warum verlängern Sie nicht einzelne Zugfahrten bis Rom?
Das ist für uns ein Thema. Wir haben aber gegenwärtig kein Rollmaterial für italienische Hochgeschwindigkeitsstrecken. Zudem ist die Linie von Mailand nach Rom bereits stark ausgelastet. Dort noch Trassen zu bekommen, ist nicht einfach. Dazu kommt, dass die Bahn für Geschäftsreisen vor allem bei einer Reisezeit bis vier Stunden konkurrenzfähig ist. Potenzial hätte es im Freizeitverkehr. Zu beachten ist aber, dass es unterschiedliche Welten sind: Die Schweiz hat im Binnenverkehr ein offenes System, für Hochgeschwindigkeitszüge in Italien gilt eine Reservationspflicht. Wir haben langjährige, gute Partnerschaften mit allen Bahnen unserer Nachbarländer. Im Inland nutzen wir Synergien, indem die internationalen Züge zum nationalen Fernverkehr gehören. Im Ausland müssen wir nicht für einige Züge pro Tag teure Strukturen aufbauen. Wenn wir nun eine Strecke mit einem großen Potenzial selbst betreiben, würden unsere Partner wohl sagen, dann machen wir es in anderen Fällen ebenfalls selbst. Das ist ein unternehmerisches Risiko, das wir als zu hoch einschätzen.
NZZ. Etliche Direktverbindungen gibt es gar nicht. Der andiskutierte Zug von der Schweiz nach London ist nur ein Beispiel.
Wir würden diesen Zug gerne anbieten. Wir haben auch die politische Unterstützung. Bundesrat Albert Rösti hat mit seinem britischen Amtskollegen darüber gesprochen. Es gibt viel Bewegung.
NZZ: Aber?
Wenn wir versuchen würden, das selbst zu machen, müssten wir in England und Frankreich Unternehmen gründen und Personal anstellen. Wir müssten Rollmaterial haben, das für diese Länder und den Kanaltunnel zugelassen ist. Das ist aufwendig und würde eine kleine Flotte mit hohen Betriebskosten bedingen, weil wir solche Züge sonst nirgends brauchen. Die Investitionen wären enorm und die Erfolgschancen zumindest fraglich, da die Konkurrenz durch Billigfluggesellschaften groß ist. Die SBB sind stark verschuldet und haben wenig Spielraum.
NZZ: Die Ankündigung, dass Sie einen Zug nach London prüfen, stieß auf ein riesiges Echo. Aber es gäbe Verbindungen, die einfacher machbar wären.
Nehmen wir unser nördliches Nachbarland. Ich würde in Deutschland nie im Fernverkehr unternehmerisch tätig werden. Auf der heutigen Infrastruktur ist es schwierig, einen vernünftigen Betrieb abzuwickeln. Die Deutsche Bahn (DB) tut, was möglich ist. Ich bewundere, mit welcher Zielstrebigkeit sie die Totalsanierung wichtiger Strecken angeht. Aber es wird Jahre brauchen, bis die Infrastruktur in einem besseren Zustand ist. Frankreich hat dagegen ein gutes Hochgeschwindigkeitsnetz. Aber wir haben für diese Strecken kein Rollmaterial. Dank den guten Zügen der SNCF können wir nach Paris fahren. Seit dem Jahr 2016 haben wir den Verkehr nach Paris, München und Italien stark ausgebaut. Für uns ist klar, dass die Kooperation die bessere Variante ist. Wir können mehr Kunden transportieren und pro Tag und Richtung über neunzig Direktverbindungen in zehn europäische Länder anbieten.
NZZ: Die SBB und die DB muten den Kunden große Verspätungen zu, obwohl Deutschland die Strecke nach München mit Schweizer Unterstützung elektrifiziert hat.
Wir sind ebenfalls nicht zufrieden, dass die Züge nach München und auf anderen Strecken so oft verspätet sind. Auch hier ist die Infrastruktur das Problem. Aber dank der Kooperation können wir der DB heute sagen, sie solle nicht in die Schweiz weiterfahren und bei uns einen pünktlichen Ersatzzug einsetzen. Würde die DB in Eigenregie in die Schweiz fahren, wäre das nicht mehr möglich. Sie würde dann auch mit stark verspäteten Zügen weiterfahren wollen. Solche Themen sollte man nicht unterschätzen.
NZZ: Kooperationen sind auch in der EU weiterhin möglich.
Ja. Aber wenn die EU einen richtigen Wettbewerb will, können Sie keine Kooperationen mehr machen. Im Güterverkehr geht das nicht mehr.
NZZ: Der Bundesrat will in den Verhandlungen mit der EU explizit erreichen, dass Kooperationen weiterhin möglich sind. Könnten Sie unter diesen Bedingungen mit der Öffnung des internationalen Fernverkehrs leben?
Absolut. Wir haben uns am Anfang der Diskussion bemerkbar gemacht und konnten uns einbringen. Das Verhandlungsmandat des Bundesrats beim Landverkehr ist für uns in Ordnung. Wichtig sind für uns der Vorrang des Taktfahrplans und des Tarifsystems, die gute Qualität sowie die Vergabe der Zugstrassen durch die Schweiz.
NZZ: Der Billigzuganbieter Flixtrain war mit den SBB im Gespräch, um in die Schweiz zu fahren. Warum ist daraus nichts geworden?
Ursprünglich war die Idee von Flixtrain, selbst in die Schweiz zu fahren. Das Unternehmen ist am Lernen. Das Bahngeschäft unterscheidet sich vom Busverkehr. Tatsächlich gab es dann aber Gespräche über eine Zusammenarbeit, was auch ohne die geplante Liberalisierung möglich wäre. Seit Januar haben wir von Flixtrain nichts mehr gehört. Der Ball liegt im Moment bei ihnen. Wir sind offen.
NZZ: Offenbar stellten die SBB weitgehende Forderungen.
So weit sind wir noch nicht. Flixtrain hat aber ein anderes Geschäftsmodell. Die internationalen Fernverkehrszüge sind in der Schweiz in den nationalen Taktfahrplan integriert. Deshalb gilt für diese ein Standard, den der Bund mit der Konzession setzt. Im Fernverkehr braucht es zum Beispiel einen Speisewagen. Zudem müssen die Züge begleitet sein.
NZZ: In der Politik sind Nachtzüge immer wieder ein Thema. Sehen Sie da Potenzial?
Ich fahre gerne Nachtzug. Aber eigene Nachtzüge zu betreiben, ist für uns aus finanziellen Gründen schwierig. Mit dem Schweizer Lohnniveau würde es nicht ohne neue Subventionen gehen. Zudem ist die Bahn ein Massentransportmittel, was mit Schlaf- und Liegewagen nicht möglich ist. Ein Nachtzug steht den ganzen Tag herum. Es ist ein Nischenangebot, das jedoch stark gefragt ist. Der Trend, umweltfreundlich zu reisen, nimmt zu. Wir arbeiten mit den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zusammen und sind froh, dass diese neues Rollmaterial beschaffen. Das ist auch möglich, weil wir als Partnerin an Bord bleiben.
NZZ: Die Qualität der Nachtzüge ist schlecht. Es kommt immer wieder vor, dass statt eines Schlafwagens bloß ein Sitzwagen zur Verfügung steht.
Das ist mir auf einer Fahrt nach Hamburg auch schon passiert. Ich habe mich darauf beim Chef der ÖBB beschwert. Die Probleme mit dem fehlenden und veralteten Rollmaterial schaden allen Bahnen.
NZZ: Gemäß dem Preisüberwacher steigen die Kosten für den Regionalverkehr in den nächsten zehn Jahren um 30 Prozent, wie er im «Blick» schrieb. Der Spielraum für teurere Billette sei aber ausgereizt. Teilen Sie die Einschätzung?
Wir müssen den Kostenanstieg relativieren. Die Zahl kommt vom Branchenverband, der über den gesamten öffentlichen Verkehr gesprochen hat. Ein großer Teil des Kostenschubs ist auf die Beschaffung von E-Bussen und den Bau von Ladestationen zurückzuführen. Bei der Bahn gehen wir nicht von einem Kostenschub in diesem Umfang aus. Das Angebot bestellen die Kantone und der Bund. Wir weisen diese immer wieder auf die steigenden Kosten bei einem größeren Angebot hin. Und bei der Infrastruktur reden wir in der Schweiz immer nur von Ausbauten. Damit ist aber der Betrieb und Unterhalt noch nicht bezahlt.
NZZ: Sie haben kritische Überlegungen zur Zukunft der Bahn angestellt. Werden Sie in der Politik gehört?
Wir haben unsere Überlegungen im März öffentlich lanciert. Wir waren positiv überrascht, wie die Ideen aufgenommen worden sind. Das nötige Umdenken braucht Zeit. In den letzten Jahren haben wir Milliarden ausgegeben, um ein paar Minuten zu gewinnen. Das ist nicht mehr möglich. Es muss jetzt darum gehen, das System besser zu nutzen. Investitionen in die Digitalisierung können uns einen großen Schritt weiterbringen. Bei einem Viertelstundentakt braucht es heutige Knoten weniger.
NZZ: Die SBB verlangen neue Subventionen, namentlich für den Güterverkehr. Besteht die Gefahr, dass sie immer abhängiger von der Politik werden?
Die SBB erhalten jedes Jahr drei bis vier Milliarden Franken Subventionen. Ob es noch ein paar hundert Millionen zusätzlich sind, ist nicht entscheidend für die Abhängigkeit. Wir sind schon stark von der Politik abhängig. Dessen sind wir uns auch bewusst. Wir bewegen uns in einem engen Korsett. Wo wir unternehmerische Handlungsspielräume haben, nutzen wir diese konsequent.
Viele Grüße vom Vielfahrer
Ich würde in Deutschland nie im Fernverkehr tätig werden
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