Zürich: Letten, Giesshübel und Selnau 1989

Hier könnt Ihr Eure Bilder präsentieren. Darf auch mal vom Thema Eisenbahn abkommen.
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Guru61
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Zürich: Letten, Giesshübel und Selnau 1989

Beitrag von Guru61 »

Hallo

1989, Es lag was in der Luft: Die Eröffnung des Zürcher S- Bahn Systems nahte in rasenden Schritten. In einem Jahr wird die S. Bahn eröffnet. Seit längerem schon sind in der Stadt umfangreiche Bauarbeiten durchgeführt worden. Bei alldem, durfte nicht vergessen werden, dass 2 Bahnhöfe aufgelassen werden: Zürich Letten und Zürich Selnau. Zürich Letten lag an der rechtsufrigen Zürichseebahn, Zürich – Meilen – Rapperswil. Rund ein Jahr vor der Eröffnung der S- Bahn wurde sie stillgelegt und die Züge fuhren bereits durch den Bahnhof Museumsstrasse. Der Bahnhof Letten, und die alte Strecke Zürich – Zürich Stadelhofen wurde am 28. Mai 1989 stillgelegt.
Die Geschichte das Bahnhofs ist hier sehr gut dokumentiert:
http://www.alt-zueri.ch/turicum/verkehr ... etten.html

Auf der „Rechtsufrigen“, wie sie im Volksmund genannt wurde, betrieb die SBB seit 1968 einen dichten Vorortsverkehr mit Halbstundentakt. Die Ausbauten wurden damals zum Teil vom Kanton und den Gemeinden bezahlt:
http://www.nzz.ch/die-geburtsstunde-der ... n-1.742622

Dazu beschaffte die SBB 20 3-teilige Triebzüge RABDe12/12, mit hohem Beschleunigungsvermögen, Geschwidigkeitssteuerung und automatischer Kupplung. Diese wurden im Volksmund „Goldküstenexpress“ (das rechte Seeufer wird allgemein, wegen den gutbetuchten Einwohnern als „Goldküste“ bezeichnet, im Gegensatz zur linksufrigen „Pfnüselküste“ Pfnüsel = Schnupfen), oder „Mirage“, wegen der Beschleunigung, genannt, und verkehrten, bis auf wenige Ausnahmen nur auf dieser Strecke.
Eine Ausnahme war der Badezug zum Mineralbad nach Zurzach. Bis Ende der1980er Jahre gab es 2 Mal täglich einen direkten Zug ab Zürich HB nach Zurzach. Bad Zurzach ist bekannt für seine Heilbäder. Darum wurde der Zug Badezug (oder bahnintern „Füdliwäscher“ Füdli= Arsch) genannt. Mit Beginn der S-Bahn wurde dieser Zug nicht mehr geführt.

Die Züge fuhren übrigens immer ab Gleis 9 in Zürich HB. Dies war früher, als der Rangierbahnhof noch in Zürich war, das Gütergleis: Güterzüge von der Ostschweiz her mussten im HB Kopf machen. Dafür war das Gleis da. Es zeichnete sich aus, dass es nur Notperrons hatte, und jeweils das Gleis 7 oder 10 überschritten werden musste. Ich habe nur ein schlechtes Bild vom Gleis 9:

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Links ist das Gleis 9, mit den schmalen Perrons.

Die Mirages und der Betrieb der Strecke hatten ihre Eigenheiten: So waren alle Züge mit Kunstoffbremssohlen ausgerüstet. Im Verein mit der nicht einstellbaren Beschleunigung und Verzögerung der Fahr-Bremssteuerung, konnte das zu einigen Problemen führen: Der Abrieb der Bremssohlen verteilte sich mit den Jahren über die Gleise und bildete, vor allem bei Nieselregen, einen schmierigen Film, der das Fahren und vor allem das Bremsen zu einer regelrechten Schlittenfahrt machte. Beim Bremsen konnte man das schlittern umgehen: Der Rechts angebrachte Stellhebel für die Geschwindigkeit hatte in der Griffkugel einen Knopf. Wurde der gedrückt, so ging das Fahrzeug in den Leerlauf und man konnte links normal mit dem Führerbremsventil bremsen. Die Automatik hatte den Nachteil, dass die direkte Bremse einen Einschuss im Bremszylinder von mehreren Bar gab, und dann aber, mit Einsetzen der elektrischen Bremse, ebenso rapid zurückging. Wer bei solchem Wetter mit der Automatik bremste, konnte sicher sein, dass er bald mal ein Signal von hinten ansehen konnte. Die Züge wurden zum grössten Teil von Rapperwiler Führern gefahren. Ein Führer aus Rapperswil sagte mir mal, dass man Rapperwiler Führer an den Schuhen erkennen könne: Die Zehenräume seien vergrössert, da man jeweils mit den Zehen Fäuste mache, wenn man auf ein Signal losschlitterte.
Der Leerlaufknopf hatte übrigens auch seine Tücken: Wurde der Geschwindigkeitshebel bewegt, so wurde der Leerlauf unterbrochen und die Automatik trat wieder in Aktion. Nun ist es in der Anfangszeit passiert, dass ein Führer, ins erwähnte Gleis 9 in Zürich HB einfuhr, und mit dem Führerbremsventil den Zug zum Stillstand brachte. Halt, schön wie es sich gehörte, 2 Meter vor dem Prellbock. Der Geschwindigkeitshebel stand aber noch auf der letzten eingestellten Geschwindigkeit. Beim nunmehrigen Zurücknehmen des Geschwindigkeitshebels auf Null, sprang die Automatik an und der Zug machte einen Satz auf dem Prellbock zu.

Eine gute Beschreibung der Züge findet man übrigens hier:
http://retro.seals.ch/cntmng?type=pdf&r ... subp=hires

Beim Fahren gab es keine Möglichkeit, die fest eingestellte Beschleunigung zu umgehen. Bei Nieselregen schleuderten die Züge stark. Ich hab so eine Fahrt einmal im Führerstand selber miterlebt: Bei den Mirages durfte man legal im Führerstand mitfahren, sofern der Führer es erlaubte. Eines Sonntags Morgen fuhr ich von Rapperswil her im Führerstand mit. Es nieselte. Fazit: der Schleuderschutz sprach dauernd an. Wenn die Differenz zwischen der langsamsten und der schnellsten Achse zu gross war, wurden die Trennhüpfer ausgelöst und der Schleuderschutz musste im Eingang in einem Kasten zurückgestellt werden. Der Führer musste den also Arbeitsplatz verlassen, was natürlich nur im Stillstand möglich war. Nun ja, also kam ich zum Zug: Wagenschlüssel fassen, Führerstand verlassen, Schaltkasten öffnen und den rot leuchtenden Knopf drücken. Bis Zürich waren wir ein eingespieltes Team. 
Ja, Tempi Passati! Leider wurden die Mirages nachher farblich verhunzt und heute sind sie alle weg.
1989 aber waren sie noch in voller Blüte. Auch der Bahnhof Letten, eine Landstation mitten in der Stadt, war noch in Betrieb. Am 27. März 1989 habe ich drei Fotos geschossen: eimal eine Mirage in Letten selber:
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und zweimal auf dem Lettenviadukt über die Limmat. Heute ist das ein innerstädtischer Veloweg. Im Hintergrund die Linie nach Oerlikon.
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Wers wusste konnte, wenn er im Letten ausstieg, zu Fuss nach Wipkingen gehen, und erwischte dann noch den Regionalzug nach Winterthur, den man in Zürich HB nicht erreichte. Klappte immer!

Kommen wir nun zu einer andern Bahn:
Der SZU: Der Sihltal- Zürich – Üetlibergbahn. Die stand damals ebenfalls vor grossen Veränderungen. Nach über 100 Jahren bekam die Bahn endlich einen direkten Anschluss zum Zürcher Hauptbahnhof: Das Trasse wurde vom Ulmbergrunnel her verschwenkt, tauchte unter das Sihl-Flussbett und nutzte die ursprünglich, für die 1975 abgelehnte U Bahn, vorbereiteten Räume. Der alte Bahnhof Selnau, der nur an die Tramlinie 8 angeschlossen war, wurde aufgelassen und ist heute total überbaut.
1989 lag der Bahnhof in den letzten Zügen.

Grund auch, um am selben Tag noch schnell dorthin zu gehen.
Leider sind nur 4 Bilder entstanden:
Hier die Einfahrt des Be8/8:
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Man beachte den Stromabnehmer: Die Uetlibergbahn verwendet Gleichstrom, während die Sihltahlbahn mit Wechselstrom 16.7 Hz fährt. Die Gleichstromfahrleitung ist daher aussermittig montiert, und die Fahrzeuge haben deshalb auch seitliche Stromabnehmer.

Die Stelle hiess im Bahnjargon übrigens, „Judenpass“: Die Strecke überquert den ehemaligen Bahn- heute Strassentunnel, den Ulmbergrunnel. Nachher senkt sie sich wieder auf Strassenniveau. Über der Strecke befindet sich eine Synagoge. Daher der Name. Dieser „Pass“ wurde vom Betrieb her geschätzt und genutzt: Mussten Wagen von einlaufenden Züge abgehängt werden, machte man einen Stoss zum Pass. Auf der Rampe wurde der, von einem Bremser besetzte Wagen, angehalten, und, nach Umstellen der Weiche, rollte man dank der Schwerkraft ins Abstellgleis.

Die andere Seite sah dann so aus:
Der Be 8/8 nochmals von hinten. Links ist bereits die Rampe zu sehen, für die Verlängerung.
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Rechts ist eine Komposition der Sihltalbahn zu sehen. Die Farbgebung war damals so: Uetlibergbahn, Orange mit rotem Streifen, Sihltalbahn, Rot mit orangen Streifen. Beide liefen dann ins sogenannte „Gichthändchen“ aus, wie das Signet benannt wurde.

Als Beispiel die Sihltalbahn:
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Die ganze Verlängerung wurde unter dem langjährigen und beliebten Direktor Hans Tempelmann eingefädelt. Er wurde zum Zeitpunkt der Eröffnung pensioniert und der nachfolgende E.R hat dann die Lorbeeren eingeheimst, für die Tempelmann den Grundstein gelegt hat. Danach musst auch grafisch alles umgemodelt werden, so auch das Signet. Das hatte dann seinen Überkamen schnell weg: Es wurde umgangssprachlich als eine Körperöffnung des Direktors bezeichnet.

Eine Beschreibung der Verlängerung gibt’s übrigens hier:
http://www.szu.ch/fileadmin/szu/pdf/med ... ng_neu.pdf

Eine Station weiter, im Giesshübel befand und befindet sich noch heute das Betriebszentrum der SZU.
Eingeklemmt befinden sich die Depot- und Abstellanlagen.
Auch hier noch 4 Bilder:

Einfahrt Giesshübel, Seite Selnau:
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Auf dem Gleis rechts kommt grade die Sihltalbahn. Das Gleis führt nur Wechselstrom. Das Gleis links gehört der Uetlibergbahn Im Jargon „UB“ genannt. Zwischen den Schutzstreckensignalen zweigte die Güterstrecke nach Wiedikon ab. Man sieht, wie sich das Gleis senkt. Die Ausfahrt nach Wiedikon querte die Gleichstromfahrleitung. Je nach Schaltzustand brannte das Schutzstreckensignal oder blieb dunkel.

Ausfahrt Sihltalbahn:
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Die Station Giesshübel wird nur von der Sihltalbahn angefahren. Die UB hat kein Perron und fährt durch. Diese Situation ist heute noch so und dürfte einzigartig sein.

Vom Uetliberg her kommt der Be 8/8:
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Diese Fahrzeuge waren technisch nicht so ganz gelungen, und wurden in den 80er Jahren noch einmal saniert. Siemens hat sich hier, wie auch bei anderen Aufträgen in der Schweiz, nicht mit Ruhm bekleckert.

Diese Fahrzeuge sind heute nur noch im Reserve Einsatz.

Und dann noch der BDe 4/4 Pendel:
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Diese Triebwagen hatten konventionelle Serie – Parallel Steuerung. Somit nur 2 Dauerfahrstufen.
Als Pendelzüge hatten sie noch eine gefürchtete Spezialität: jeder Trieb und Steuerwagen hatte im Führerstand einen Schalter mit vielen Stellungen. Je nachdem, wieviel Wagen der Zug hatte, und wo der Wagen im Zugverband war, musste der Schalter auf einer ganz bestimmten Stellung sein. War er das nicht, war tote Hose!
Was das für den Führer hiess, wenn ein Zug in Selnau verlängert wurde und er in den sieben Minuten Wendezeit, beim sonntäglichen Massenandrang, in jedem Führerstand den Schalter umstellen, und richtig umstellen, musste, kann man sich nicht vorstellen. Ein Schalter falsch, und das Ganze begann von vorn!

Das waren noch Zeiten!
Heute hat sich vieles verändert. Die SZU hat sich zur modernen Vorortsbahn gemausert. Sie bring unwahrscheinliche Leistungen. Wenn das jemand erleben will, dem rate ich, sich in der heutigen Station Selnau, während der morgendlichen Stosszeit aufzustellen und zuzuschauen, wie der Verkehr rollt. Dann muss man sich noch vergewärtigen, dass die Gleise keine echte Doppelspur sind, sondern, wegen der verschiedenen Stromsysteme, nur teilweise als Doppelspur genutzt werden können.

Ich hoffe, der Ausflug ins alte Zürich hat Spass gemacht.
Bm 6/6 18514
Hemmschuhleger
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Re: Zürich: Letten, Giesshübel und Selnau 1989

Beitrag von Bm 6/6 18514 »

Guru61 hat geschrieben:Die Züge fuhren übrigens immer ab Gleis 9 in Zürich HB. Dies war früher, als der Rangierbahnhof noch in Zürich war, das Gütergleis: Güterzüge von der Ostschweiz her mussten im HB Kopf machen. Dafür war das Gleis da. Es zeichnete sich aus, dass es nur Notperrons hatte, und jeweils das Gleis 7 oder 10 überschritten werden musste. Ich habe nur ein schlechtes Bild vom Gleis 9:
Mehr sieht man zum Beispiel hier:
http://igschieneschweiz.startbilder.de/ ... ch-hb.html
http://igschieneschweiz.startbilder.de/ ... 2rich.html
Zürich sah damals noch ziemlich anders aus, die Bahnsteige waren sehr kurz (die ersten Weichen teils schon in der Bahnhofshalle) und durch Holzbohlen im Weichenbereich etwas länger nutzbar. Unterführungen gab es natürlich auch keine.
Gleis 9 lag zwischen den heutigen Gleisen 11 (früher 8) und 12 (früher 10). Beim Umbau wurden die Gleise 10-16 zu 12-18, wobei Gleis 16/18 auf die normale Länge verlängert wurde, davor endete es deutlich weiter westlich. Die Gleise 1-8 wurden zu 4-11, als Ersatz für das verschwundene alte Gleis 9 wurde südlich vom Bahnhof das Gleis 3 angebaut, das zuvor nur abschnitssweise als Rangiergleis vorhanden war.
Gleis 1+2 waren für die SZU im "U-Bahnhof", die aber nun umbenannt wurden.

Interessant an den versetzen Uetliberg-Stromabnehmer ist, dass dies mit Rücksicht auf eine Elektrifizierung der Sihltalbahn mit Wechselstrom geschah, die damals aber noch mit Dampf fuhr. Die Gleichstrom-Wahl bei der Uetlibergbahn wurde im Hinblick auf eine mögliche Umspurung auf Meterspur getroffen, dann hätte man über Strassenbahngleise bis in die Stadt fahren können. Die ersten Triebwagen waren auch entsprechend passend schmal gebaut, was den Überhang des Stromabnehmers noch auffälliger machte.
In den nächsten Jahrzehnten wird die Uetlibergbahn aber wohl auf 15 kV Wechselstrom umgestellt, die neuen Triebwagen können beide Systeme und wenn dann mal die alten ersetzt werden müssen, kann man den Rest anpassen. Würde auch den Betrieb im Tunnel nach Zürich vereinfachen (Umwandlung in zweigleisige Strecke), dort liegen heute zwei seperate einspurige Strecken nebeneinander mit je 10 min-Takt zur HVZ, jede Strecke hat einen "Kreuzungsbahnhof", indem ein kurzes Stück der jeweils anderen Strecke mit beiden Stromsystemen elektrifiziert ist samt passender Weichenverbindung.

Gruss, Florian
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