Europa fährt schnell Zug

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
Antworten
Vielfahrer
Örtlicher Betriebsleiter
Örtlicher Betriebsleiter
Beiträge: 4786
Registriert: So 1. Aug 2010, 13:32
Wohnort: Tübingen Weststadt

Europa fährt schnell Zug

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

seit langem mal wieder habe ich in dieser Woche in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel von Hans Bosshard, einem früheren Eisenbahner, der dann 37 Jahre lang als Redakteur für die Neue Zürcher Zeitung tätig war, lesen können, der sich mit dem Hochgeschwindigkeitsverkehr auf dieser Welt befasst und zur Einschätzung gelangt, dass auch die Schweiz einzelne Bahn-Neubaustrecken braucht:

Während in der Neuen Welt der wildeste Präsident aller Zeiten in seiner vierjährigen Amtszeit für sein Schienennetz weder einen Meter Hochgeschwindigkeitsstrecke eingeweiht noch zum Bau freigegeben hat, gehören auf dem alten Kontinent 300 km/h erreichende Züge heute zum Alltag. Verstopfte Straßen und überlastete Flughäfen haben Sachzwänge geschaffen.

Am schnellsten ist von den Asiaten Fahrt aufgenommen worden. Nach 1964 sind Japans 500 km langer Tokaido-Linie rasch weitere Hochgeschwindigkeitsstrecken gefolgt. Konnten die Japaner daraufhin ihre Technik nach Taiwan exportieren, orientierten sich die Koreaner auf der Strecke Seoul -Pusan am französischen TGV.

Das längste Schnellbahnnetz der Welt ist in bewundernswert kurzer Zeit mit Tausenden von Kilometern Hochgeschwindigkeitsstrecken von den Chinesen errichtet worden. In der Türkei wird die neue Linie von Istanbul nach Ankara und Konya in Richtung Sivas, Erzurum und Kars, mit Anschluss nach Aserbaidschan, fortgesetzt.

Auf dem afrikanischen Kontinent hat sich das frankophile Marokko für eine 200 km lange Strecke ab Tanger mit Ziel Casablanca vom TGV inspirieren lassen. In Südafrika mit ersten normalspurigen Vorortstrecken im Raum Pretoria – Johannesburg ist eine Schnellverbindung nach Durban vorgesehen.

Deutschland erinnerte 1965 bei einer internationalen Verkehrsausstellung in München mit kurzen Extrazügen für 200 km/h, die nach Augsburg fuhren, an die „Fliegenden Hamburger“ von 1933 für 160 km/h, die ab Berlin verkehrten. Der Effort schlief rasch ein, weckte aber die Franzosen, die an den Weltrekord zweier ihrer Lokomotiven mit 331 km/h aus dem Jahr 1955 in den Landen südlich von Bordeaux anknüpften. Bis Mitte 1967 entstanden durch Umbau von Schnellzugskompositionen für 200 km/h die Züge Capitole du matin und Capitole du soir, die in genau sechs Stunden von Paris nach Toulouse (713 km) eilten.

Die erste, 261 km lange Direttissima Europas bauten von 1970 bis 1991 die Italiener, leider mit einem alten Stromsystem für 250 km/h was sich im dichten Taktverkehr als zu langsam erweist. Auf allen seither errichteten Linien zwischen Turin, Venedig und Salerno schießen komfortable Frecciarossa-Züge (rote Pfeile) von Trenitalia mit 300 km/h über die Gleise, selbst durch lange Tunnel.

In einer Wirtschaftskrise gebaut, steigerten die Trains à grande vitesse (TGV) Frankreichs ab 1981 ihre Höchstgeschwindigkeit in rascher Folge von 260 km/h auf 320 km/h. Nach Paris und Lyon wurden dank der Eignung des TGV, auch „kleine“ elektrifizierte Linien zu befahren, Regionen in allen Richtungen des Hexagons erschlossen. Wo der beliebte TGV noch fehlt, sind Politiker jeder Couleur gern bereit, sich für Anschubfinanzierungen einzusetzen.

Mit ihrem TGV-Netz von gut 2.000 km sind die Franzosen von den Spaniern überholt worden, die schon deutlich über 3.000 km Hochgeschwindigkeitsstrecken bauen und von der iberischen Breitspur zur europäischen Normalspur übergegangen sind. Belgien und die Niederlande haben mit Linien für 300 km/h den TGV-Verkehr nach London, Amsterdam und Deutschland ermöglicht. England, das Mutterland der Eisenbahnen, wird die begonnene Hochgeschwindigkeitslinie London-Birmingham in den Norden weiterführen.

Aufgrund der großen Kurvenradien, vieler Einsprachen, langer Bauzeiten und hoher Kosten für den Mischbetrieb (Reise- und Güterzüge) verzögerte sich in Deutschland die Betriebsaufnahme der ICE-Züge für 250 (in Verspätungsfällen 280) km/h mit zwei kurzen Neubaustrecken bis 1991. Der Vorstoß des ICE via TGV Est nach Paris mit ebenfalls 320 km/h gelang mit etlichen Geburtswehen.

Obgleich von vielen Pannen geplagt, operiert die 45 km lange Schweizer Bahn-2000-Neubaustrecke Mattstetten-Rothrist (zwischen Bern und Olten) seit 2004 erfolgreich mit 200 km/h. Die 55 km lange Fortsetzung ab Roggwil nach Zürich für IC-Züge und auch von Biel und Basel, die eine gute Alternative wäre zum Ausbau der A 1 auf sechs Spuren, wird bis jetzt weder vom diesbezüglich führungslosen Bundesrat noch von den Grünen und Grünliberalen und auch nicht privat finanziert angestrebt.

Die SBB-Giruno-Züge für 250 km/h sind für die 300 km/h-Verbindungen nach Genua, Venedig, Florenz und Rom von den Nachbarn als Hindernisse zurückgewiesen worden. Der längste Tunnel der Welt, derjenige am Gotthard, und der unter Wasserdruck teilweise eingestürzte Lötschberg-Basistunnel wirken ohne angemessene Zufahrten im In- und Ausland wie Kathedralen in der Wüste. Für die stark belasteten Abschnitte Liestal – Olten (von den Stimmberechtigten 1987 beschlossen), Genf – Rennes im boomenden Palézieux-Bogen, Puidoux - Freiburg, Zofingen – Luzern und Winterthur – St. Gallen mit tiefen Durchschnittsgeschwindigkeiten drängen sich Neubaustrecken für 200 km/h auf.


Viele Grüße vom Vielfahrer
Antworten