Plötzlich wollen zehntausend Lokführer werden

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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Plötzlich wollen zehntausend Lokführer werden

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

die Neue Zürcher Zeitung stellt in einem Bericht von David Vonplon fest, dass die SBB während der Pandemie von Bewerbern förmlich überrannt werden und sich viele Piloten darunter befinden.

Seit Jahren suchen die Bahngesellschaften händeringend nach Lokomotivführern. Weil in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen, ist der Bedarf an Nachwuchs und beruflichen Quereinsteigern bei den Bahngesellschafen enorm. Doch insbesondere die SBB taten sich langen Zeit schwer, neues Personal zu rekrutieren. Der Arbeitsmarkt war völlig ausgetrocknet – und der Rücklauf auf Kampagnen im Ausland, in denen man um potenzielle Interessenten für den Job warb, bleib überschaubar. Die prekäre Lage im Führerstand bleib damit bestehen – und hatte Folgen für den Bahnbetrieb. Dutzende Verbindungen mussten gestrichen werden.

Im Zuge der Corona-Pandemie zeichnet sich nun eine Entschärfung der angespannten Personalsituation ab. Grund dafür ist, dass das Interesse am Berufsstand es Lokführers in der Krise sprunghaft angewachsen ist. „Allein im letzten Jahr sind 9.234 Bewerbungen eingegangen“, sagt SBB-Sprecher Martin Meier, „der Eingang ist sehr gut“. Wer Lokführer werden will, muss sich gedulden, bis er einen freien Platz für die Ausbildung bekommt. Alle Klassen seien bis Mai 2021 gefüllt, sagt Meier – und es werde weiter rekrutiert.

Gemäß jetziger Planung werden im Herbst bei den SBB über 350 Lokführer gleichzeitig in Ausbildung sein – dies entspricht einem Allzeitrekord. Üblicherweise dauert die Ausbildung zum Lokführer bei den SBB 14 bis 16 Monate. Weil der Schulbetrieb in den Ausbildungszentren Olten, Zürich-Altstetten, Lausanne und Bellinzona aufgrund Corona- bedingter Schutzmaßnahmen nur eingeschränkt durchgeführt werden kann, verlängert sich die Ausbildungszeit bei einem Teil der angehenden Lokführer um einige Wochen. Nach heutigen Stand erwarten die SBB bis Ende des Jahres einen Ausgleich des Lokführerbestands.

Auch andere Bahnunternehmen wie die BLS oder die Rhätische Bahn (RhB) stellen ein erhöhtes Interesse am Beruf des Lokführers fest. „Bei uns sind alle Ausbildungsplätze bie Ende 2021 besetzt“ sagt BLS-Sprecherin Tamara Traxler. Man sei bereits daran, Auszubildende für das Jahr 2022 zu rekrutieren. Die BLS hat die Zahl der Klassen im letzten Jahr von vier auf sieben erhöhrt. Gegenwärtig sind 54 Lokführerinnen und Lokführer in Ausbildung. Bei der RhB heißt es, dass man für die Ausbildungsplätze für das Jahr 2021 bereits „ausreichend gute Bewerbungen“ erhalten habe.

Laut den SBB befinden sich unter den Bewerbungen auch solche von Piloten. „Wir stellen fest, dass sich gerade auch Personen aus der Aviatikbranche für die Ausbildung interessieren“, sagt Sprecher Meier. Einige hätten bereits mit dem Ausbildungsprogramm angefangen.

Grund dafür ist, dass seit dem Ausbruch der Pandemie aus dem einstigen Traumberuf Pilot ein Job mit höchst ungewissen Zukunftsaussichten geworden ist. Weil die erhoffte Erholung der Luftfahrtindustrie auf sich warten lässt, sehen sich die Airlines mit einem enormen Überbestand an qualifizierten Linienpiloten konfrontiert, der noch Jahre anhalten dürfte. Viele Piloten erleben deshalb in den letzten Monaten ihr persönliches Grounding.

Aeropers, der Personalverband der Swiss-Piloten, sowie der Verband der Schweizer Lokführer (VSLF) hatten im vergangenen Herbst angeregt, Piloten für einige Jahre im Führerstand von Zügen einzusetzen. Weil es bei den Berufspiloten von Piloten und Lokführern diverse Überschneidungen gibt, etwa was die Verantwortung und die Sicherheit betrifft, sollten diese von einer verkürzten Ausbildung profitieren. Ebenfalls regten die Verbände an, dass die Piloten nach einiger Einarbeitungszeit einer Teilzeitbeschäftigung in beiden Berufen nachgehen könnten. Doch bis heute lässt ein Modell auf sich warten, das einen direkten, unbürokratischen Wechsel vom Cockpit in den Führerstand ermöglicht. Laut Meier haben zwar im letzten Jahr Gespräche zwischen den Unternehmen stattgefunden und es sollen Möglichkeiten einer sinnvollen Zusammenarbeit geprüft werden.

In den Sondierungsgesprächen hat sich jedoch gezeigt, dass die betrieblichen Bedürfnisse beider Unternehmen unterschiedlich sind. „Wir haben festgestellt, dass es nur wenig Spielraum gibt, damit Piloten den Ausbildungsgang zum Lokführer abkürzen können“, sagt dazu Meier. Zumal die Prüfungsvoraussetzungen für alle angehenden Lokführer die gleichen seien.

Eine Vereinbarung der beteiligten Unternehmen steht laut Swiss-Sprecherin Karin Müller auch im Wege, dass die weitere Entwicklung der Pandemie nach wie vor unklar ist. Man habe mit den Bahnunternehmen vereinbart, die Gespräche wieder aufzunehmen, sobald sich die mittel- und längerfristigen Geschäftsentwicklungen im Luftverkehr konkretisieren würden. Zur Frage, wieviele Piloten derzeit bei der Swiss unbeschäftigt sind, machte Müller keine Angaben.

Beim Pilotenverband Aeropers zeigt man sich derweil enttäuscht über die ausbleibende Kooperation von SBB und Swiss. „Den beteiligten Unternehmen fehlt leider die nötige Flexibilität, um entsprechende Arbeitsmodelle anzubieten“, fast Sprecher Thomas Steffen zusammen. Die SBB befürchteten, dass ein großer Teil der wechselwilligen Piloten nach einigen Jahren wieder in ihren angestammten Beruf zurückkehren möchten – und sich der Aufwand für die Umschulung nicht rechne.

Die Swiss wiederum habe darauf bestanden, die Piloten umgehend wieder zurückgewinnen zu können, sobald sich die Pandemie-Krise entspanne, so Steffen. Unter diesen Vorzeichen sei es unwahrscheinlich, dass doch noch eine Vereinbarung zwischen den Firmen zustande komme.


Viele Grüße vom Vielfahrer
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