Verkehr und Klimaschutz erfordern radikalen neuen Anfang

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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Verkehr und Klimaschutz erfordern radikalen neuen Anfang

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

der Tübinger OB Boris Palmer nennt in einem Gespräch mit der Lokalzeitung Schwäbisches Tagblatt zehn Punkte, die er auf die Agenda für ein klimaneutrales Tübingen setzen möchte.

Herr Palmer, warum jetzt der Vorstoß beim Klimaschutz?
Die "Friday for Future"-Bewegung in Tübingen hat in ihren Wahlprüfsteinen gefragt, wer das Ziel unterstützt, Tübingen bis 2030 klimaneutral zu machen. Die Fraktionen, die mit Ja geantwortet haben, stellen jetzt die Mehrheit im Rat. Ich habe einen großen Vorrat an Ideen, die dieses Ziel erreichbar machen, aber bislang politisch nicht mehrheitsfähig schienen. Ich bin gerne bereit, dem Gemeindrat schon bald entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.

Was ist Ihnen die wichtigste Idee?
Wir haben in nur einem Jahr durch den kostenfreien Samstag eine Zunahme der Fahrten im Tü-Bus um mehr als 30 Prozent erreicht. Die Mehrzahl der Umsteiger kam vom Auto. Ich halte den kostenfreien Tübus an allen Wochentagen für die am schnellsten wirksame Klimaschutzmaßnahme in der Stadt. Das können wir sogar aus eigenen Mitteln finanzieren, wenn Bund und Land sich weiter einem Versuch verweigern.

Wer soll das wie bezahlen?
Bisher zahlen die Nutzer, künftig sollte es eine Flatrate von durchschnittlich 15 Euro pro Monat für alle sein. Am besten wäre eine Abgabe für Betriebe und Einwohner. Solange das rechtlich nicht geht, sehe ich eine Mischung aus flächendeckender Einführung von Parkgebühren und moderaten Steuererhöhungen als machbar an. Wir haben mehr als 10.000 bisher kostenlose Parkplätze im Stadtgebiet, bewirtschaftet ist nur das Zentrum.

Sollen alle Parkplätze bewirtschaftet werden? Auch in den Teilorten?
Alle Parkplätze im Eigentum der Stadt im ganzen Stadtgebiet. Solange die umsonst sind, subventionieren wir einen Klimaschaden. Das geht nicht mehr, wenn wir klimaneutral werden wollen. Wenn gleichzeitig flächendeckend Carsharing angeboten wird und der ÖPNV umsonst ist, dann werden viele nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit fahren und können auf das eigene Auto verzichten.

Was müsste man zahlen?
Der Wert eines Stellplatzes liegt bei etwa 30 Euro im Monat.

Haben Sie noch weitere Pläne, die Autofahrer betreffen?
Ich war gerade in Oslo und komme mit faszinierenden Eindrücken zurück. Dort wurde eine nahezu autofreie Innenstadt geschaffen. Es ist unglaublich leise und entspannt. Elektrische Kurzstreckenmobilität hat die Erschließung übernommen. Die Leute surren mit Scootern und Rädern durch die Straßen, überall entstehen neue Sitzgelegenheiten und Spielflächen. Ich denke, wir sollten die autofreie Innenstadt von der Altstadt auf das südliche Stadtzentrum und den Talcampus der Uni ausweiten. Die erste Demo für die autofreie Wilhelmstraße hat mich gefreut. Dahin muss es gehen.

Wie kommen die Menschen alternativ zu ihren Zielen?
Am besten mit dem öffentlichen Nahverkehr und von dort mit überall verfügbaren Leihrollern zu den Zielen in der autofreien Zone. Aber natürlich ist das für den Handel nur vorstellbar, wenn die Parkhäuser weiter anfahrbar bleiben und die Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn kommt. Dann überwiegt der Gewinn an Aufenthaltsqualität.

Kann die Innenstadtstrecke nur bis zur Morgenstelle gehen, muss sie nicht gleich bis WHO fahren?
Wenn der Tübus umsonst ist, wird ein Drittel mehr Busverkehr im Stadtgebiet gefahren. Das ist so gut, dass wir nur für die Verbindung von WHO in die Innenstadt nicht zwingend die Stadtbahn brauchen. Für die Kunden aus dem Umland und die Pendler zum Klinikum aber schon.

Aber bis wann ist die Tübinger Stadtbahn realistisch?
Wenn wir klimaneutral bis 2030 sein wollen, muss das gesamte Projekt bis 2030 realisiert sein. Ich habe darüber schon mit meinem Reutlinger Kollegen Keck gesprochen. Er sieht das wie ich. Wir werden gemeinsam für die Regionalstadtbahn einstehen, un ddas heißt natürlich mit den Innenstadtstrecken in Reutlingen und Tübingen. Der Bund stellt jetzt endlich genug Geld für solche Projekte zur Verfügung. Da müssen wir zugreifen.

Wie wollen Sie außer beim Verkehr den Klimaschutz verstärken?
Der Verkehr steht im Mittelpunkt, weil er im Gegensatz zu STrom und Wärme in den letzten 30 Jahren nichts zum Klimaschutz beigetragen hat. Im Gegenteil, die Emissionen sind sogar gestiegen. ABer natürlich müssen wir auch beim Strom weiter vorankommen. Die Stadtwerke haben die Marke von 50 Prozent Eigenproduktion aus erneuerbarer Energie erreicht. Wir können 100 Prozent bis 2030 schaffen, wenn wieder Standorte für Windenergie zur Verfügung gestellt werden. Und wir müssen, sogar noch deutlich mehr schaffen, weil wir auch Autos und Häuser mit Strom betanken und beheizen müssen.

Ist das realistisch, selbst wenn das Land die Vorschriften für Windanlagen lockert?
Ja, es ist ein Skandal, dass die Zahl der neuen Windkraftanlagen an Land im ersten Quartal um 90 Prozent eingebrochen ist. Das liegt aber daran, dass die Bundesregierung die feste Einspeisevergütung abgeschafft hat und durch ein Ausschreibungssystem ersetzt hat, das nicht funktioniert. Den Hebel kann man morgen umlegen, es fehlt nicht an Standorten, sondern nur am politischen Willen. Und wir haben ja auch die Sonne.

Wie kann die Sonnenenergie in Tübingen besser genutzt werden?
Wir haben soeben die tausendste PV-Anlage in Betrieb genommen im Stadtgebiet. Das reicht für etwa 3 Prozent des Strombedarfs. Es sind aber auch noch 95 Prozent der Dächer frei. Ich möchte ein 1000-Dächerprogramm für eine Verdoppelung in zwei Jahren auflegen und bis 2030 Strom von der Hälfte der Dachflächen in der Stadt mit Netz haben. Das würde dann ausreichen, um einen Großteil der Elektromobilität direkt zu versorgen.

Die Stadt zahlt Zuschüsse?
Für alle Neubauten werden wir die PV wie im Güterbahnhof vorschreiben. Das hat der Gemeinderat schon beschlossen. Un b-estand dürfen wir das bisher leider nicht, das muss der Bund uns aber erlauben. Für die kommenden zwei Jahre würde ich ein Zuschussprogramm für die Koste der Planung der Anlage als sinnvoll ansehen, damit wir rasch vorankommen.

Klimaschutz bedeutet oft auch neue Geräte. Das kann sich nicht jeder leisten.
Richtig. Wenn wir jetzt mehr Tempo machen beim Klimaschutz, dann kostet das erstmal Geld. Es zahlt sich nur langfristig aus. Wer wenig verdient, wäre davon viel härter betroffen. Deshalb sollten wir einen Teil der Einnahmen aus Klimaschutzabgaben für Zuschüsse an die Bezieher geringer Einkommen einsetzen. Ich denke zum Beispiel an Zuschüsse für die Anschaffung sparsamer Elektrogeräte und Fahrzeuge. Ohne sozialen Ausgleich ist Klimaschutz nicht zu machen.

Was geht noch?
In Norwegen habe ich noch eine spannende Erfahrung gemacht. Ich war in einem achtgeschossigen Bürogebäude aus Holz. Das war nicht nur von der Atmosphäre wunderbar, es sorgt auch draußen für ein gutes Klima. Mit Holzbau entziehen wir der Atmosphäre CO2, Beotn ist dagegen ein Energiefresser. Ich möchte die Holzbauweise in Tübingen bis 2030 zur Pflicht machen und mit der GWG schnell anfangen: Neubau wo immer möglich nur noch in Holz. Die so genannte graue Energie für die herstellung des Gebäudes wird immer wichtiger, wenn der Betrieb klimaneutral wird. Mit Betonhäusern ist Klimaneutralität dann gar nicht mehr zu machen, mit Holzhäusern schon.

Halten die Wälder die entsprechend intensiver Bewirtschaftung aus?
Tatsächlich gibt es immer Zielkonflikte, auch hier, aber die möglichen Mengen aus nachhaltiger Holzbewirtschaftung schöpfen wir in Deutschland und Europa nicht aus.

Tübingen ist politisch grüner geworden, wird das auch sichtbar im Stadtbild mit Grün?
Wenn wir Verkehrsflächen frei machen, dann bekommen wir auch Platz für mehr Grün in der Stadt. Und weil Bäume CO2 binden, ist soar das ein Beitrag zum Klimaschutz. Ja, ich denke, wie sollten den Umbau der Straßen mit einem Programm für 1.000 Bäume in der Stadt kombinieren.

Das sind die wichtigsten Punkte für die nächste Zeit?
Derendingen hat dieses Mal mehr Grün gewählt als der Rest der Stadt. Mir scheint das auch er Wunsch zu sein, den Saiben nicht anzutasten. Landversiegelung ist ein großer Schaden für das Klima. Wir sollten alles daran setzen, bis 2030 Innenentwicklung vor Außenentwicklung zu betreiben. Die großen Parkplätze beim "Real" könnten das geplante Gewerbegebiet im Schelmen komplett ersetzen. Den Saiben als Wohngebiet brauchen wir nachweislich bis 2030 nicht. Ich finde, wir sollten daran arbeiten, die Fläche als grüne Lunge für immer zu erhalten.

Rufen Wie nach dem Vorbild von Konstanz bald den Klimanotstand aus?
Ich finde den Notstand nicht motivierend Ich würde leiber einen Aktionsplan für ein klimaneutrales Tübingen verabschieden. Klimaneutralität bis 2030 erfordert eine neue Qualität des Denkens und Handelns. "Mit Tübingen macht blau" haben wir seit 2008 aus Gründen politischer Machbarkeit vieles zurück gestellt und eine Politik kleiner aber verträglicher Schritte verfolgt. Das war erfolgreich. Wir haben heute 30 Prozent werniger CO2-Emissionen und eine bundesweite Spitzenstellung im Klimaschutz, aber Deutschland verfehlt seine Zeile krachend. Wenn wir die Forderungen der jungen Leute ernst nehmen, dass wir ihre Zukunft nicht klauen dürfen, dann müssen wir jetzt wirklich radikal neu anfangen, auch bei uns.

Viele Grüße vom Vielfahrer
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