Güterzüge fahren chronisch Verluste ein (Teil 1)
Verfasst: So 14. Apr 2024, 14:25
Hallo,
in der zurückliegenden Woche kam in der Neuen Zürcher Zeitung ein interessanter Beitrag von Benjamin Triebe aus Olten, der sich mit dem Zustand des Güterverkehrs der SBB befasst hat. Der Beitrag ist zwei volle Zeitungsseiten groß, weshalb ich erst mal mit dem Anfang beginne.
Endlich erhält der Lokführer Lazar Matic den Funkspruch, auf den er seit zehn Minuten wartet: „Vorziehen gegen Zwerg“, ordnet Rangierleiter Rolf Hess an. Matic sitzt im Führerstand der Rangierlokomotive. Hess steht vorne auf dem Trittbrett und gibt die Kommandos. Matic rollt zwei Dutzend Meter vorwärts – bis zum kniehohen Signal, das Zwerg genannt wird. Dann steht die Lok wieder still. „Heute wird viel gewartet“, sagt Matic.
Matic und Hess manövrieren jeden Tag für SBB Cargo Güterwaggons hin und her, stellen sie zu Zügen zusammen und entkoppeln sie wieder. Der Zeitplan ist genau vorgegeben, auch heute im Bahnhof Olten Hammer. Mit ihrer kleinen Lok und den Waggons müssen sie sich zwischen den Personenzügen durchfädeln, die einen der wichtigsten Knotenpunkte im Schweizer Bahnnetz anfahren. Theoretisch lassen sich die Zeitfenster genau planen.
Heute hält sich die Realität nicht an die Theorie. Alles dauert länger: Der Güterzug, von dem Hess eben drei Wagen abgekoppelt hat, war eine halbe Stunde verspätet. Dann sind die Daten zu den drei Waggons im Computernetzwerk verlorengegangen. Hess muss die Wagen ablaufen, um die Daten manuell zu kontrollieren. Er darf nicht beides auf einmal tun. Das Fehlerrisiko ist zu hoch.
Auch Matic muss mit seiner Lok hin und her. Zuerst hinter die Waggons, um sie zu abzutrennen. Dann vor die Waggons, denn fahren muss er sie in die andere Richtung. Es sind leere Müllwagen, die zu einem Terminal der Verbrennungsanlage Kebag auf der anderen Seite von Olten gebracht werden sollen. Für die Manöver muss Matic die Gleise wechseln. Für jede Bewegung braucht er das Kommando von Hess, und Hess braucht die Erlaubnis des Fahrdienstleiters. Alles ist verspätet, die Zeitfenster sind weg. Das bedeutet: Warten vor störrischen Zwergen.
Wenn Alexander Muhm die Zeit hätte, könnte er sich das Warten von oben anschauen. Die Zentrale von SBB-Cargo ist am Bahnhof Olten, und die Büros im Hochhaus bieten einen guten Ausblick. Doch der Leiter des SBB-Güterverkehrs hat wenig Zeit. Seine Aufgabe ist die Sanierung der Frachtsparte. „Gäbe es nicht die Rückendeckung des Mutterhauses SBB, wären wir mehr oder weniger konkursreif“, sagt Muhme im Gespräch. Bis in die 1960er Jahre hinein hat der Güterverkehr die SBB finanziert, jetzt schreibt er hartnäckige Defizite.
Teil 3 folgt noch.
Fast 75 Prozent des Gütertransits durch die Schweizer Alpen rollen über die Schiene. Damit lässt sich prinzipiell auch Geld verdienen. Doch innerhalb des Landes wird nur ein Viertel der Fracht mit Zügen befördert. Den Rest übernehmen Lastwagen. Noch 1980 waren Schiene und Straße beim Transportvolumen etwa gleichauf. Dann wurde die Konkurrenz der günstigen und flexiblen Lastwagen übermächtig.
Um das zu ändern, will der Staat helfen. Mindestens eine halbe Milliarde Franken soll ausgegeben werden, um den nationalen Frachtverkehr per Bahn zu fördern. Das sieht die Revision des Gütertransportgesetzes vor, die der Bundesrat vorgeschlagen hat. Noch in diesem Monat beugen sich die Parlamentarier über den Vorstoß. So gut die Schienenfracht für das Klima auch ist – so schwer ist es, die im Binnenverkehr profitabel zu betreiben.
Das größte Sorgenkind trägt den sperrigsten Namen: Einzelwagenladungsverkehr (EWLV). So wird es genannt, wenn Frachtzüge Güter von unterschiedlichen Absendern für vielfältige Empfänger transportieren. Die Waggons werden eingesammelt und zu Kompositionen zusammengestellt, dann an ein gemeinsames Zwischenziel gefahren, dort entkoppelt und schließlich getrennt zu ihren Empfängern gebracht.
Das ist das, was Hess und Matic in Olten tun. Die Verspätung, die sie an diesem Tag haben, ist nicht das Problem. Sie ist eine Ausnahme. 93 Prozent der Güterzüge in der Schweiz sind pünktlich. Das Problem ist, dass die vielen Handgriffe, die sie ausüben müssen, an sich schon zu langwierig und damit zu teuer sind. Der Binnenverkehr besteht größtenteils aus solch aufwendigem EWLV.
Das ist der Klotz am Bein von SBB-Cargo. Das Staatsunternehmen ist der einzige große Anbieter von Einzelwagenverkehr in der Schweiz – quasi ein Monopolist, nur ohne Monopolgewinn. Das Schweiz-Geschäft von SBB-Cargo erwirtschaftete 2023 einen Verlust von 80 Millionen Franken: die Verkehrsleistung schwand um knapp 8 Prozent. Aber Mumm sagt: „Wir glauben an den EWLV. Wenn wir das nicht machen wollten, würden wir es beenden.“
Scheitert der Einzelwagenverkehr, würden sich die Transportmengen auf die Straße ergießen. Das wünscht sich kaum jemand. „Den EWLV kann man nicht aufgeben. Dann geht der Schienentransport stark zurück, Staus und CO2-Ausstoß nehmen zu“, sagt Stephan Wagner, Professor für Supply-Cain-Management an der ETH Zürich.
Viele Grüße vom Vielfahrer
in der zurückliegenden Woche kam in der Neuen Zürcher Zeitung ein interessanter Beitrag von Benjamin Triebe aus Olten, der sich mit dem Zustand des Güterverkehrs der SBB befasst hat. Der Beitrag ist zwei volle Zeitungsseiten groß, weshalb ich erst mal mit dem Anfang beginne.
Endlich erhält der Lokführer Lazar Matic den Funkspruch, auf den er seit zehn Minuten wartet: „Vorziehen gegen Zwerg“, ordnet Rangierleiter Rolf Hess an. Matic sitzt im Führerstand der Rangierlokomotive. Hess steht vorne auf dem Trittbrett und gibt die Kommandos. Matic rollt zwei Dutzend Meter vorwärts – bis zum kniehohen Signal, das Zwerg genannt wird. Dann steht die Lok wieder still. „Heute wird viel gewartet“, sagt Matic.
Matic und Hess manövrieren jeden Tag für SBB Cargo Güterwaggons hin und her, stellen sie zu Zügen zusammen und entkoppeln sie wieder. Der Zeitplan ist genau vorgegeben, auch heute im Bahnhof Olten Hammer. Mit ihrer kleinen Lok und den Waggons müssen sie sich zwischen den Personenzügen durchfädeln, die einen der wichtigsten Knotenpunkte im Schweizer Bahnnetz anfahren. Theoretisch lassen sich die Zeitfenster genau planen.
Heute hält sich die Realität nicht an die Theorie. Alles dauert länger: Der Güterzug, von dem Hess eben drei Wagen abgekoppelt hat, war eine halbe Stunde verspätet. Dann sind die Daten zu den drei Waggons im Computernetzwerk verlorengegangen. Hess muss die Wagen ablaufen, um die Daten manuell zu kontrollieren. Er darf nicht beides auf einmal tun. Das Fehlerrisiko ist zu hoch.
Auch Matic muss mit seiner Lok hin und her. Zuerst hinter die Waggons, um sie zu abzutrennen. Dann vor die Waggons, denn fahren muss er sie in die andere Richtung. Es sind leere Müllwagen, die zu einem Terminal der Verbrennungsanlage Kebag auf der anderen Seite von Olten gebracht werden sollen. Für die Manöver muss Matic die Gleise wechseln. Für jede Bewegung braucht er das Kommando von Hess, und Hess braucht die Erlaubnis des Fahrdienstleiters. Alles ist verspätet, die Zeitfenster sind weg. Das bedeutet: Warten vor störrischen Zwergen.
Wenn Alexander Muhm die Zeit hätte, könnte er sich das Warten von oben anschauen. Die Zentrale von SBB-Cargo ist am Bahnhof Olten, und die Büros im Hochhaus bieten einen guten Ausblick. Doch der Leiter des SBB-Güterverkehrs hat wenig Zeit. Seine Aufgabe ist die Sanierung der Frachtsparte. „Gäbe es nicht die Rückendeckung des Mutterhauses SBB, wären wir mehr oder weniger konkursreif“, sagt Muhme im Gespräch. Bis in die 1960er Jahre hinein hat der Güterverkehr die SBB finanziert, jetzt schreibt er hartnäckige Defizite.
Teil 3 folgt noch.
Fast 75 Prozent des Gütertransits durch die Schweizer Alpen rollen über die Schiene. Damit lässt sich prinzipiell auch Geld verdienen. Doch innerhalb des Landes wird nur ein Viertel der Fracht mit Zügen befördert. Den Rest übernehmen Lastwagen. Noch 1980 waren Schiene und Straße beim Transportvolumen etwa gleichauf. Dann wurde die Konkurrenz der günstigen und flexiblen Lastwagen übermächtig.
Um das zu ändern, will der Staat helfen. Mindestens eine halbe Milliarde Franken soll ausgegeben werden, um den nationalen Frachtverkehr per Bahn zu fördern. Das sieht die Revision des Gütertransportgesetzes vor, die der Bundesrat vorgeschlagen hat. Noch in diesem Monat beugen sich die Parlamentarier über den Vorstoß. So gut die Schienenfracht für das Klima auch ist – so schwer ist es, die im Binnenverkehr profitabel zu betreiben.
Das größte Sorgenkind trägt den sperrigsten Namen: Einzelwagenladungsverkehr (EWLV). So wird es genannt, wenn Frachtzüge Güter von unterschiedlichen Absendern für vielfältige Empfänger transportieren. Die Waggons werden eingesammelt und zu Kompositionen zusammengestellt, dann an ein gemeinsames Zwischenziel gefahren, dort entkoppelt und schließlich getrennt zu ihren Empfängern gebracht.
Das ist das, was Hess und Matic in Olten tun. Die Verspätung, die sie an diesem Tag haben, ist nicht das Problem. Sie ist eine Ausnahme. 93 Prozent der Güterzüge in der Schweiz sind pünktlich. Das Problem ist, dass die vielen Handgriffe, die sie ausüben müssen, an sich schon zu langwierig und damit zu teuer sind. Der Binnenverkehr besteht größtenteils aus solch aufwendigem EWLV.
Das ist der Klotz am Bein von SBB-Cargo. Das Staatsunternehmen ist der einzige große Anbieter von Einzelwagenverkehr in der Schweiz – quasi ein Monopolist, nur ohne Monopolgewinn. Das Schweiz-Geschäft von SBB-Cargo erwirtschaftete 2023 einen Verlust von 80 Millionen Franken: die Verkehrsleistung schwand um knapp 8 Prozent. Aber Mumm sagt: „Wir glauben an den EWLV. Wenn wir das nicht machen wollten, würden wir es beenden.“
Scheitert der Einzelwagenverkehr, würden sich die Transportmengen auf die Straße ergießen. Das wünscht sich kaum jemand. „Den EWLV kann man nicht aufgeben. Dann geht der Schienentransport stark zurück, Staus und CO2-Ausstoß nehmen zu“, sagt Stephan Wagner, Professor für Supply-Cain-Management an der ETH Zürich.
Viele Grüße vom Vielfahrer