Wege aus der Sackgasse für den Bahngüterverkehr

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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Wege aus der Sackgasse für den Bahngüterverkehr

Beitrag von Vielfahrer »

Über die Gesellschaft für rationale Verkehrspolitik e.V. bin ich auf einen interessanten Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 31.01.2011 aufmerksam gemacht worden, den ich mal den Forumsteilnehmern zum Lesen empfehlen möchte.


Wege aus der Sackgasse für den Bahngüterverkehr

In keinem anderen Land werden mehr Güter über kurze Distanzen von Anschlussgleis zu Anschlussgleis befördert - kundenfreundlich, aber aufwendig. Besser wäre ein integrierter kombinierter Verkehr mit einfachen Umladesystemen. Von Andreas Bieniok

Der Schienengüterverkehr ist uns lieb. «Für Güter die Bahn» lautet ein Werbespruch aus den siebziger Jahren, der bis heute das Wunschbild prägt. Im alpenquerenden Verkehr von Grenze zu Grenze wird dem von Gesetzes wegen nachgelebt, wir lassen uns das einiges kosten. Im Güterverkehr innerhalb der Schweiz hat die Bahn noch eine beachtliche Stellung. Der Transport von Zement, Holz oder Futtermitteln erfolgt mit Einzelwagen bis in Anschlussgleise; 506 Punkte werden in der Schweiz bedient. Die Hälfte der Bedienpunkte bringt weniger als 1000 Wagen im Jahr oder 3 bis 5 Wagen pro Tag, 95 Prozent der Menge werden über die andere Hälfte oder rund 250 Punkte abgewickelt.

Gesundschrumpfen oder subventionieren

Das System ist aufwendig, teuer und defizitär. Nun soll es gesundgeschrumpft werden. Das heisst nichts anderes, als dass jedem zweiten Bedienpunkt die Einstellung droht. Nur 5 Prozent der heutigen Mengen würden dadurch auf die Strasse verlagert, und es könnten nachhaltig Kosten gespart werden. Ist dem wirklich so? Um diese Frage zu beantworten, muss man wissen, wo die Kosten effektiv entstehen und wo durch die geplante Redimensionierung wirklich Einsparungen resultieren. Führt man sich die Zusammenhänge der Logistik vor Augen, stellt man zuerst einen erstaunlichen Sachverhalt fest. Wären Wagen in Güterzügen für die letzte Meile bezüglich der Reihenfolge im Zug perfekt sortiert, fielen Kosten für das Abholen und Zustellen von Wagen entlang einer Bahnlinie grundsätzlich weitgehend unabhängig von der Zahl der zugestellten Wagen und der bedienten Zustellpunkte an. Dies, weil dann die jeweils letzten Wagen an den Zustellbahnhöfen einfach abgehängt und ohne Rangiervorgänge in die Anschlussgleise verschoben werden könnten. Die seit Jahrzehnten verfolgte Sanierungsprämisse, Kosten durch die Reduktion von Zustellpunkten zu sparen, ist ein Irrglaube. Das Kernproblem liegt nicht bei der Zahl der Zustellpunkte, sondern beim sehr umständlichen Sortiervorgang in einem antiquierten Produktionssystem. Effizient transportieren heisst effizient sortieren. Die Crux eines jeden Transports von A nach B - also auch von Anschlussgleis zu Anschlussgleis - liegt darin, dass die von A versandten Wagen nicht alle für das gleiche Ziel B bestimmt sind. Dazwischen liegt immer mindestens ein Sortiervorgang. Bei der Güterbahn geschieht dies in Rangierbahnhöfen, beim Lastwagen in Umladeplattformen. Genau hier liegt das Problem der klassischen Güterbahn. Im Rangierbahnhof werden Wagen eines ankommenden Zuges in abgehende Züge sortiert. Um die Wagen für die Zustellung in Anschlussgleise in die richtige Reihenfolge zu bringen, ist mehrmaliges, aufwendiges Rangieren erforderlich. Die Zahl der Sortierbewegungen steigt mit der Zahl Zustellpunkte.

Massiv vereinfacht wird das Sortieren erst, wenn man sich in der Ebene und in der Höhe frei bewegen kann. Mit Ausnahme des klassischen Bahngüterverkehrs nutzen deshalb alle Sortieranlagen mindestens zwei und meistens alle drei Bewegungsrichtungen. Rollcontainer werden so rasch und in der richtigen Reihenfolge von Flugzeug zu Flugzeug umgeladen. Paletten lassen sich, für eine Auslieferungstour sortiert, nacheinander einfach vom Lastwagen abladen. Wenn für die Nutzung der Güterbahn in Zukunft eine Mindestmenge von mehr als fünf gemeinsam beförderten Bahnwagen pro Tag gefordert wird, verliert diese jede Möglichkeit, in der Fläche zusätzlichen Verkehr von der Strasse zu übernehmen. Nur wenn einzelne Lastwagenladungen praktisch an jedem Bahnhof auf die Schiene wechseln können, ergeben sich möglichst lange Transportwege auf der Schiene.

Nur wenn der Sortiervorgang vom Sammelzug auf den Verteilzug ebenfalls schnell und kostengünstig erfolgt, ist die gesamte Transportkette zeitlich und kostenmässig mit dem direkten Lastwagenverkehr konkurrenzfähig. Die SBB wollen einen anderen Weg gehen. 250 Punkte sollen nur noch bedient werden, wenn die öffentliche Hand die hohen Kosten des althergebrachten Produktionssystems durch Abgeltungen finanziert. Zudem soll zwischen Dietikon und Renens ein Zug Container im Binnenverkehr befördern und soll schrittweise ein Netz von Terminals aufgebaut werden. Dieser Weg ist nicht neu und wurde in den letzten 15 Jahren schon mehrmals vorgeschlagen. Zwar sprechen die SBB neu von Gateway-Terminals, sie haben es aber bisher verpasst, die Vorteile des Transportes in Behältern statt in Bahnwagen dort zu nutzen, wo es am meisten bringt. Der Schlüssel liegt beim Sortieren der Behälter anstelle des Rangierens von Bahnwagen und nicht beim Umschlag Schiene/Strasse mit unwirtschaftlichen Binnenterminals.

Güterbehälter und Bahnwagen

Die Redimensionierung der Bedienpunkte im klassischen Wagenladungsverkehr und der Aufbau neuer Punkt-Punkt-Kombiverkehrsangebote sind die falsche Strategie für den Binnengüterverkehr. Der Weg führt unweigerlich in die Sackgasse. Für einen zukunftsfähigen Schienengüterverkehr in der Fläche muss das Produktionssystem radikal umgestellt werden: Güterbehälter und Bahnwagen sind konsequent zu trennen. In Zukunft könnten Behälter unter Nutzung aller drei Dimensionen effizient sortiert und verteilt werden. So liesse sich Lastwagenverkehr in der Fläche tatsächlich auf die Schiene verlagern.

Andreas Bieniok leitet seit 1999 das Amt für öffentlichen Verkehr des Kantons St. Gallen und war von 1993 bis 1996 Leiter eines Bundesprogramms für energiesparenden und umweltschonenden Güterverkehr.


Viele Grüße vom Vielfahrer
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