„Wir müssen uns vom Auto lösen, denn wir fahren geradewegs in eine Wand“

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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„Wir müssen uns vom Auto lösen, denn wir fahren geradewegs in eine Wand“

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. August war ein interessanter Beitrag zur Verkehrswende zu lesen. Interviewt wurde Prof. Kay W. Axhausen, der seit 1999 als ordentlicher Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrsplanung und Transportsysteme an der ETH Zürich ist. Im Februar 2024 geht er in den Ruhestand. Axhausen sagt, in 10 Jahren werde seine Arbeit wohl kaum noch zitiert werden, sein Nachlass seien darum die Doktoranden, die er ausgebildet habe. Er lebt in Zürich und besitzt kein Auto.


„Wir müssen uns vom Auto lösen, denn wir fahren geradewegs in eine Wand“

Über Jahrzehnte prägte der ETH-Professor Kay Axhausen die Verkehrsforschung. Bevor er in den Ruhestand tritt, spricht er mit Fabian Vogt über Fehler der Stadtzürcher Regierung und darüber, warum E-Autos nicht reichen, um die CO2-Ziele zu erreichen.

Herr Axhausen, vergangenes Jahr gab die Stadt Zürich für Investitionen in Verkehrsprojekte und laufende Ausgaben 450 Millionen Franken aus. Trotzdem jammern Verkehrsteilnehmer auf zwei und vier Rädern ständig. Was läuft schief?

Es fehlt ein langfristiges Konzept. Zwar ist die Haltung der rot-grünen Stadtregierung seit Jahren die gleiche. Man will Velos fördern. Entsprechend werden Parkplätze abgebaut und Radwege aufgebaut. Doch diese Wege hören plötzlich auf oder beginnen irgendwo - das Netz ist löchrig. Das passiert, wenn man keine Vision für eine Velostadt hat, sondern immer nur einzelne Projekte in Angriff nimmt. Das führt dann unter anderem dazu, dass jeder Akteur in Zürich - die VBZ, das Tiefbauamt und die Dienstabteilung Verkehr - sein eigenes Interesse in den Vordergrund stellt.

Dann spielen Sie einmal König von Zürich. Sie haben die Möglichkeit, das Verkehrskonzept der Stadt zu entwerfen.

Über allem steht die CO2-Neutralität. Diese zu erreichen, erfordert harte Anpassungen. Sowohl was das menschliche Verhalten als auch die Rahmenbedingungen angeht. Denn die Verkehrsentwicklung hat in den letzten Hundert Jahren mit großem Erfolg auf das Auto gesetzt, nun aber zeigt sich, dass dies nicht so weitergehen kann, wenn die Umweltziele erreicht werden sollen.

Sie wollen den Menschen das Auto wegnehmen?

Nein, das wird weder möglich noch nötig sein. Dafür ist das Auto eine viel zu tolle Erfindung. Es bietet volle Kontrolle darüber, wann man wohin fahren will, und viele andere Annehmlichkeiten wie eine Klimaanlage oder eigene Musik. Darüber hinaus sind sämtliche negativen Wirkungen, die durch das Auto verursacht werden, für den Konsumenten nicht sichtbar. Autofahrer merken nicht, welche zusätzliche Reisezeit sie allen anderen Autofahrern verursachen, wieviel CO2 sie ausstoßen, wie sie durch Parkieren die Parkprobleme anderer erhöhen oder wieviel CO2 in die Produktion ihres Wagens gesteckt wurde.

Sie sind noch immer Alleinherrscher. Wie überzeugen Sie das Volk, auf das Auto zu verzichten?

An der ETH Zürich arbeiten wir im Projekt E-Bike-City daran, Zürich radikal umzubauen. Unsere Idee: Die Hälfte der Straßenfläche, die bisher Autos zur Verfügung steht, soll E-Bikes und Co. gehören. Denn nur über eine Umverlagerung von motorisiertem Individualverkehr zu mehr ÖV, Rad- und Langsamverkehr können wir in den Städten die Klimaziele erreichen.

Den Menschen soll also die Lust am Autofahren genommen werden, weil weniger Platz auf der Straße längere Fahrzeiten bedeuten?

Wir wollen ihnen ein Angebot machen. In der E-Bike-City wäre automatisch andere, ökologischere Verkehrsmittel attraktiver. Die Menschen würden vielleicht feststellen, dass sie einen 30-minütigen Weg auch mit dem Fahrrad machen können, wie sie es ja auch als Teenager gemacht haben. Derzeit entwickeln wir unter anderem Software und Normen für eine entsprechende Umgestaltung. Wir machen auch eine ÖV-Planung, denn wenn Menschen mehr auf zwei Rädern unterwegs sind, sind sie abhängiger von den Wetterbedingungen und werden beispielsweise eher den Zug nehmen, wenn es schüttet.

Klingt sehr theoretisch. Kann das in der Praxis funktionieren?

Das wissen wir natürlich nicht. Denn die Menschen haben sich an das Auto gewöhnt und ein Verzicht verkompliziert ihr Leben. Aber Fakt ist, dass die Menschen die Erreichbarkeit über alles stellen, das hat die Verkehrsplanung der letzten 3twa 300 Jahre gezeigt. Sollten sie im Auto langsamer am Ziel sein als mit anderen Verkehrsmitteln, werden sie wechseln.

Wie definieren Sie Erreichbarkeit?

Die Möglichkeit, innert kurzer Zeit möglichst viele Orte erreichen zu können. In der Schweiz beispielsweise hat sich die durchschnittliche Reisezeit seit 1950 halbiert, man erreicht seine Destination also doppelt so schnell wie damals. Studien zeigen, dass die Gesellschaft massiv von besserer Erreichbarkeit profitiert hat. Die Produktivität und der Reichtum sind gestiegen, denn Menschen können ihre Freunde einfacher sehen. Es ist eine Glücksspirale für die Gesellschaft, die stetig nach oben dreht, und das Auto steht im Zentrum dieser Entwicklung. Aber eben nun müssen wir uns vom Auto lösen, denn wir fahren geradewegs in eine Wand.

Sie haben aber gute Gründe aufgezählt, warum wir nicht bremsen können. Wie soll die Dekarbonisierung trotzdem gelingen?

Meiner Meinung nach muss ein positives Bild einer neuen Welt gezeichnet werden. Eine Welt, die zwar anders ist und im ersten Moment anstrengender, aber doch positiv empfunden werden kann. Darum ist es so wichtig, dass eine Stadt eine Gesamtvision hat. In den 1950ern gab es Visionen von Autobahnen, diesen wunderschönen leeren Autostraßen im Sonnenschein. Solche Bilder braucht die Verkehrswende auch. Man kann nicht nur hingehen und den Menschen Horrorbilder von Umweltkatastrophen zeigen oder erzählen, wie teuer alles werden wird. Das schreckt ab. Die E-Bike-City soll ein solches Bild sein. Wie gesagt, wissen wir nicht, ob dies die benötigten Veränderungen bringt. Aber immerhin präsentieren wir eine Idee.

Im Ausland gibt es Städte, die solche Visionen nicht nur hatten sondern auch umsetzen, Kopenhagen und Amsterdam etwa...

... ja, das sind Städte, die bei dem Thema immer genannt werden, weil es dort so viele Fahrräder gibt. Aber die Wahrheit ist: Dort fahren nicht weniger Autos, stattdessen ist der ÖV unwichtiger geworden. Auch diese Städte hatten nämlich kein gutes Gesamtkonzept und haben es verpasst, mit der Ausweitung des Veloverkehrs auch den ÖV zu fördern. Plakativ gesagt, was die Zürcher mehr Tram fahren, fahren die Amsterdamer mehr Fahrrad.

Ein anderes Beispiel ist Singapur. Dort fahren viel weniger Autos, seit die Regierung begonnen hat, sehr hohe Abgaben dafür zu verlangen und zudem seit 2018 die Zahl der Privatautos plafoniert hat.

Singapur ist tatsächlich das wohl erfolgreichste Beispiel für einen Wandel. Es gibt hohe Zölle, Steuern und Abgaben... ergänzt je nach Ort und Zeit um unterschiedlich hohe Straßengebühren. Es fährt nur noch Auto, wer das wirklich will und es sich auch leisten kann. Das Straßennetz ist aber weiterhin sehr gut. Zudem wurden auch im ÖV Maßnahmen unternommen, fährt man außerhalb der Hauptverkehrszeiten, ist es günstiger.

Allerdings ist Singapur ein Stadtstaat, der seit Beginn der Unabhängigkeit vor über 60 Jahren von der gleichen Partei regiert wird. So sicher im Sattel sitzt nicht einmal die linke Stadtzürcher Regierung.

Das sollte uns nicht davon abhalten, über einen Umbau nachzudenken. Wenn wir weitermachen wie bisher, erreichen wir die CO2-Ziele sicherlich nicht. Im Gegensatz zu den Politikern zeigen wir wenigstens eine Möglichkeit auf. In der Hoffnung, dass bald viele weitere Vorschläge folgen.

In Singapur wird unter anderem Mobility-Pricing angewandt. Könnte das auch in Zürich funktionieren? Als besonders preissensitiv gelten die Schweizer ja nicht.

Über finanzielle Anreize für Entlastung auf den Straßen zu sorgen, halte ich auch in der Schweiz für realistisch. Wir haben eine Studie mit Basler Kollegen gemacht, die zeigt, dass die Schweizer durchaus reagieren. Eine Preisänderung von 100 Prozent führt zu einer Verhaltensänderung von 30 Prozent. Das ist zwar nicht besonders viel, aber immerhin etwas. Problematischer könnte vielleicht sein, die Leute davon zu überzeugen, Tracker im Auto installieren zu lassen, um die gefahrenen Kilometer zählen zu können.

Ist das ein Grund, warum die bisher angekündigten Mobility-Pricing-Projekte in verschiedenen Schweizer Städten sehr zögerlich starten?

Es ist sicherlich eine politisch schwere Kugel, die man ins Rollen bringen will. Viele Politiker werden Angst haben, ein Referendum nicht zu überleben, sollten sie Mobility-Pricing einführen wollen. Aber dass es funktionieren kann, haben andere Städte gezeigt. In Stockholm etwa wurde zuerst eine sogenannte City-Maut abgelehnt. Die Stadt hat dann mit staatlicher Hilfe einfach ein paar Jahre später selber ein Projekt gestartet, um technisch die Voraussetzung für Mobility-Pricing zu schaffen. Nachdem das System ein halbes Jahr getestet worden war, kam es zu einer Volksabstimmung und das Volk war plötzlich dafür. Mittlerweile hat sich der Autoverkehr in Stockholm in der Maut-Region um rund einen Viertel reduziert.

Mobility-Pricing könnte dazu führen, dass weniger Autos auf den Straßen sind. Aber ist das im Hinblick auf den CO2-Ausstoß wirklich so entscheidend? Das Ende des Verbrennungsmotors ist ja beschlossene Sache.

Selbst wenn alle Autos zu E-Autos geworden sind - und irgendwann wird das passieren - werden damit die Umweltziele nicht ganz erreicht. Denn bei der CO2-Produktion muss der ganze Lebenszyklus der Fahrzeuge berücksichtigt werden, also von der Produktion bis zum Recycling. Bei den E-Autos gehört dazu etwa die Herkunft des Stroms dazu, da steht die Schweiz gut da, andere Länder weniger. Zudem kommt noch ein Problem dazu.

Welches?

Das Platzproblem. E-Autos werden Autofahren billiger machen, was mehr Anreiz zum Fahren schafft. Bereits jetzt gibt es aber auf den Straßen immer weniger Platz, weil immer mehr Autos fahren und der Straßenbau mit dem Tempo nicht mithalten kann.

Und was ist mit autonomen Fahrzeugen, die wohl auch irgendwann kommen? Die werden auch elektrisch sein, aber das Fahren noch effizienter machen.

In welcher Form werden die kommen? Werden sie vor allem im Privatbesitz sein, geteilt genutzt wie Mobility oder als Car-Pools wie Kleinbusse? Berechnungen zeigen: Würde eine Stadt beschließen, nur noch automatische Kleinbusse zu erlauben, brauchte es nur noch Fahrzeugflotten, die ungefähr einem Sechstel der heutigen Größe entsprechen.

Sie scheinen das nicht für besonders realistisch zu halten?

Es ist eine Möglichkeit, aber wahrscheinlicher ist, dass automatische Fahrzeuge das Platzproblem akzentuieren. Kürzlich wurde eine Studie erstellt in den USA, bei der etwa drei Dutzend Familien einen Taxifahrer erhielten, den sie wie ein automatisches Fahrzeug jederzeit benutzen konnten. Es zeigte sich, dass die Zahl der gefahrenen Kilometer dieser Haushalte sich fast verdoppelte. Das ergibt auch Sinn: mit automatischen Fahrzeugen könnten plötzlich Personen fahren, die das bisher nicht durften. Sie können etwa ihren zehnjährigen Sohn in so ein Ding setzen und dem Auto sagen: „Bring ihn zur Großmutter“. Es dürfte darüber hinaus zu vielen Leerfahrten kommen. Darum will ich trotz all den Innovationen, die beim Auto kommen werden, auch einmal festhalten: Wir müssen an einer Zukunft arbeiten, in der weniger Menschen Auto fahren wollen.


Viele Grüße vom Vielfahrer
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